Machen Laborwerte krank?
Sind falsche Festlegung von Blutwert-Referenzbereichen schuld für Fehldiagnosen, die mitunter zu gravierenden Behandlungsfehlern führen können? In ihrem Buch “Die Blutwert-Lüge: Warum Laborwerte falsch sind und uns krank machen” behauptet Autorin Myriam Muhm genau das und hinterfragt die Sinnhaftigkeit so mancher Blut- und entsprechender Vergleichswerte. Wir haben die Autorin zum Interview gebeten und genauer nachgefragt.
70 Prozent aller Diagnosen gründen sich auf Standard Blutbefunde – doch diese liefern allzu oft falsche Aussagen über die tatsächliche Gesundheit der Betroffenen. Millionen von Patienten machen die leidvolle Erfahrung, dass ihr Blutbefund ‚in Ordnung‘ ist, obwohl sie zweifellos krank sind.
Das sind Menschen mit unerkannter Schilddrüsen- oder Diabeteserkrankung, mit Depressionen oder Fatigue-Syndrom, mit kognitiven Störungen oder Demenz – und nicht zuletzt die große Schar derer, die als Psychosomatiker oder gar Hypochonder abgestempelt werden. Und die gibt es die anderen, deren Befunde ‘schlecht’ sind, obwohl sie sich pudelwohl fühlen. Wie kann das sein? Was steckt dahinter?
Ursachen möglicher Fehl- oder Nichtdiagnosen
Die Ursache dafür ist, dass bis zu 70 Prozent aller ärztlichen Diagnosen anhand der gemessenen Laborbefunde erstellt werden. Diese zeigen aber erstens eine Momentaufnahmen und zweitens fokussieren sie – Nomen est Omen – eben nur auf das Blut. In den meisten Fällen zeihen sie also auf, was sich gerade aktuell nur im Blut befindet − nicht aber, was in den Geweben im Körper passiert.
Das ist fatal, denn auch wenn ein untersuchter Stoff im Blut aktuell innerhalb des Referenzbereich liegt, kann in Geweben und Organen, wie Niere, Leber, Pankreas, Gehirn oder Knochen, trotzdem ein Mangel oder ein Überschuss eines Stoffes vorhanden sein. Das ist Fakt und durch eine hohe Zahl von medizinischen Studien belegt. Deswegen leiden viele Menschen trotz „normaler“ Blutbefunde monate- oder jahrelang an Erkrankungen – ohne eine Diagnose, geschweige denn eine Therapie zu bekommen − und werden womöglich noch als wehleidig abgestempelt. Andere wiederum werden medikamentös behandelt, ohne dass eine Veranlassung vorliegt.
Die Autorin und ihr Buch
Verständlich und medizinisch fundiert, zeigt die Wissenschaftsjournalistin Myriam Muhm erstmals auf, wie häufig Blutwerte von medizinischer Seite falsch eingeschätzt werden und wie die falsche Festlegung vieler Referenzbereiche für Blutwerte zu Fehldiagnosen und Behandlungsfehlern führt. Die Autorin ist ist als freie Journalistin auf Medizin und Naturwissenschaften spezialisiert.
Sie schrieb für verschiedene Printmedien, unter anderem für die Süddeutsche Zeitung und ist als als wissenschaftliche Beraterin für das italienische Fernsehen tätig. Die in München und Italien lebende Autorin ist zudem selbständige Dokumentarfilmerin für RAI TV und das Schweizer Fernsehen im Bereich Wissenschaft.
Aus den Inhalt:
- Wie sicher sind Laborbefunde?
- Glukose – der honigsüße Diabetes
- Eisen – Eisenmangel, Burn-out & Co
- Geophagie – Appetit auf Erde
- Kalzium – Osteoporose
- TSH – nicht erfasste Schilddrüsenerkrankungen
- Jod – zurück zum Beginn der Evolution
- Vitamin B12 – Demenz
- Vitamin B1 – eine neue Waffe gegen Parkinson?
- Vitamin D – Dilemma Sonnenschutz
Interview mit der Autorin
Gesund.co.at: Welcher Blutwert hat Ihrer Meinung nach die zuverlässigste Aussagekraft? Oder anders gefragt: Bei welchen Werten außerhalb des Referenzbereichs würden auch Sie hellhörig werden?
Myriam Muhm: Bei fast allen Werten, die sich außerhalb des Referenzbereichs bewegen, sollte man handeln, denn in den meisten Fällen muss davon ausgegangen werden, dass die Krankheit, oder der Mangel- oder Überschuss, schon lange besteht (falls es sich nicht um akute Fälle handelt, wie im Fall einer Hämorrhagie). Um aber das Ergebnis auf eventuelle Laborfehler oder Medikamenteneinwirkungen zu überprüfen und somit ganz sicher zu sein, wäre im Einzelfall eine zweite Laboruntersuchung zu empfehlen. Einen absolut zuverlässigen Blutwert als solchen gibt es wohl kaum.
Gesund.co.at: Welcher Blutwert hat Ihrer Meinung nach die geringste Aussagekraft? Oder anders gefragt: Auf Basis welches Wertes werden am häufigsten Fehldiagnosen gestellt?
Myriam Muhm: Nun, wenn man sich die Aussagen von Ärzten anschaut, dann sind die Referenzbereiche für die Blutbefunde von B12 (z. B. Prof. Wolfgang Herrmann, Deutschland), aber auch von TSH (z.B. Dozent Wolfgang Zechmann, Österreich, Prof. Georg Brabant, Deutschland) sowie von Ferritin (z.B. Dr. med. Schaub, Schweiz und Prof. Peyrin-Biroulet, Frankreich) und von Blutzucker (Prof. Lüscher, Schweiz, sowie laut der Europäischen Leitlinie für Diabetes und Herzerkrankungen) sehr problematisch und können, wie diese Fachärzte betonen, zu einer Unterdiagnostizierung und somit zu Fehldiagnosen führen, die auch gravierender Natur sein können.
Gesund.co.at: Was empfehlen Sie Patienten, die sich unwohl fühlen, deren Blutwerte aber keine Auffälligkeiten zeigen?
Myriam Muhm: Nicht zu verzweifeln, und nicht an sich selbst zu zweifeln. Und sich auf jeden Fall nicht einreden lassen, dass die Beschwerden im eigenen Kopf entstanden sind, nur weil man psychisch belastet, nervös oder gestresst ist.
Im Buch finden diese Menschen eine mögliche Antwort auf ihr Problem, denn sie merken, dass es nicht ihre “Schuld” ist, sondern dass aufgrund der Schwächen des Systems “Blutbefunde” ihre Krankheit möglicherweise undiagnostiziert bleibt. Menschen, die sich ständig fragen müssen, warum sie krank sind, obwohl ihre Blutbefunde in Ordnung sind, finden dort Erklärungen und Studien, die von Ärzten und Professoren der Medizin verfasst wurden und genau aufzeigen, was mit den Referenzbereichen bestimmter Substanzen unter Umständen nicht stimmt.
Aus dem Buch lässt sich klar und unmissverständlich ersehen, dass man trotz normaler Kalziumwerte Osteoporose haben kann, dass man trotz normaler B12-Werte unter Polyneuropathien leiden kann, dass trotz normaler Ferritinwerte ein funktioneller Eisenmangel mit all den Begleiterscheinungen wie depressive Verstimmungen vorliegen kann, und dass trotz diesbezüglicher normaler Blutwerte selbst eine akute lebensbedrohliche Bauchspeicheldrüsenentzündung vorliegen kann. Und das sind nur einige Beispiele…
Ich habe nichts anderes getan als all diese Aussagen, das einschlägige wissenschaftliche Material sowie die diesbezüglichen Aussagen in den Leitlinien zusammenzutragen. Meine eigene Erfahrung, jahrelang krank gewesen zu sein, obwohl meine Blutbefunde in Ordnung waren, hat mich dazu gebracht, dieses Buch zu schreiben. Am Ende wurde bei mir dann dank einer Biopsie endlich doch eine Vaskulitis festgestellt – aber nur, nachdem ich wiederholt den Arzt gewechselt habe und am Ende jemanden fand, der nicht nur auf die Blutbefunde geschaut hat, sondern die Krankheitszeichen ernst genommen und eine Gewebeentnahme angeordnet hat. Den Arzt zu wechseln ist in vielen Fällen von ungeklärten Beschwerden bei normalen Blutbefunden hilfreich.
Gesund.co.at: Welchen Rat geben Sie Patienten, die auf Basis ihrer schlechten Blutwerte regelmässig Medikamente einnehmen? Gibt es hier die Möglichkeit eines ‘Gegenchecks’?
Myriam Muhm: Schwierig. Wegen der Details verweise ich hier insbesondere auf das Kapitel „Glukose, der honigsüße Diabetes“.
Gesund.co.at: Macht es in Ihren Augen Sinn, Blutuntersuchungen zu wiederholen, bzw. sich eine Zweitmeinung einzuholen?
Myriam Muhm: Ja, wobei differenziert werden muss. Aufgrund falsch festgesetzter Referenzbereiche macht eine Wiederholung der Blutuntersuchung bei bestimmten Substanzen wenig Sinn.
Das Einholen einer Zweit-oder Drittmeinung schon eher, denn sie gibt dem Patienten die Chance, auf einen Arzt zu stoßen, der die Symptome vielleicht ernst nimmt und sich weitere Gedanken macht. Diese letztere Möglichkeit ist die beste Waffe in den Händen eines Patienten.
Die sehr interessante ARD Dokumentation “Meine letzte Hoffnung” über Patienten, die falsch behandelt wurden und in der Charité in Berlin endlich eine richtige Diagnose oder Behandlung erhielten, oder die wunderbare, noch aufrufbare WDR-Dokumentation über Prof. Jürgen Schäfer, “Der Arzt, der um die Ecke denkt”, zeigen eindeutig, wie viele Patienten einen langen Weg hinter sich haben, bis sie endlich dort ankommen, wo man sich mehr Gedanken macht.
Man geht davon aus, dass es in der BRD ca. 4 Millionen Menschen sind, die keine Diagnose für ihre Beschwerden erhalten. Dies alles zeigt deutlich, dass man als Patient den Mut aufbringen muss, wenn notwendig, weitere Ärzte aufzusuchen.
Gesund.co.at: Wollen Sie unseren Lesern noch einen Tipp mit auf dem Weg geben?
Myriam Muhm: Im Buch finden die Leser viele Tipps. Eines aber würde ich gerne noch betonen: Man sollte sich informieren, und wenn man weiß, dass Blutbefunde nicht unbedingt aussagekräftig sind − wie selbst von einer gesetzlichen Krankenkasse wie der deutschen AOK zugegeben wird − dann sollte man einen Arzt, der nur auf die Blutwerte schaut und die Symptome vernachlässigt, schleunigst wechseln.
Gesund.co.at: Wir bedanken uns für das Interview!
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Linktipps
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– Pankreatitis (Bauchspeicheldrüsenentzündung) | Krankheitslexikon
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