Migräne: Neue Medikamente mit weniger Nebenwirkungen und Kontraindikationen

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Migäne, neue Medikamente

Neben dem Leiden und der Beeinträchtigung der Patienten verursacht Migräne in Europa jährlich 27 Mrd. Euro an Gesundheitskosten. Die derzeit gängigen Therapien gegen Migräne zeigen bescheidene Ansprechraten, ziehen jedoch oft unerwünschte Nebenwirkungen nach sich. Studien, die nun beim Europäischen Schmerz-Kongress EFIC in Hamburg präsentiert wurden, lassen innerhalb der nächsten zwei Jahre neue Medikamente mit wesentlich weniger Sicherheitsbedenken erwarten. Fortschritte versprechen sich Forscher auch von innovativen Methoden der Neuromodulation.


Behandlung der Migräneattacke

Bei leichten bis mittelschweren Migräneanfällen helfen oft Standard-Analgetika, wie Acetylsalizylsäure, Ibuprofen, Diclofenac, Paracetamol oder Metamizol. Acetylsalicylsäure (ASS) ist entzündungshemmend, fiebersenkend und schmerzstillend und gehört zu den ältesten heute noch verwendeten Schmerzmitteln. Bei häufiger Einnahme können jedoch Magen-Darm-Probleme auftreten, ähnliches gilt für Ibuprofen, Naproxen oder Diclofenac.

Bei mittelschweren bis starken Beschwerden galten lange Zeit Ergotamine als Mittel der Wahl. Ergotamine (Mutterkornalkaloide) sind zwar wirksam, jedoch führt die Einnahme zu unerwünschten Nebenwirkungen. Bei oftmaligem und übermäßigem Gebrauch können sie zu Medikamentenkopfschmerz oder Durchblutungsstörungen führen.

„Die heute verfügbaren Therapien gegen Migräne und Cluster-Kopfschmerz bieten vielen Patienten keine Hilfe”, so Prof. Jean Schoenen (Liege, BE) auf dem Europäischen Schmerz-Kongress EFIC 2011 in Hamburg vor mehr als 4.000 Experten aus 75 Ländern. „Medikamente zur Prävention von Migräne-Attacken wirken bei nur 50 Prozent der Betroffenen, jene gegen akute Anfälle bei 70 Prozent. Beide sind mit vielen Nebenwirkungen und Kontraindikationen verbunden. Wir freuen uns daher über zwei neue Substanzklassen gegen akute Migräne-Attacken mit weniger Nebenwirkungen und Kontraindikationen. Sie stehen kurz davor, die Zulassungsbedingungen zu erfüllen und könnten bereits in zwei Jahren auf dem Markt sein.”

Migräne, charakterisiert durch wiederkehrende Attacken heftiger Kopfschmerzen und Übelkeit, ist die häufigste neurologische Erkrankung. Jeder fünfte bis siebente Europäer erlebt mindestens einmal im Leben eine Migräne-Attacke. Chronische Migräne, definiert durch mehr als 15 Tage Kopfschmerz und zumindest acht typische Anfälle pro Monat, belastet drei bis fünf Prozent der Bevölkerung und führt zu massiver Behinderung. Cluster-Kopfschmerz wiederum betrifft weniger Menschen (0,1 Prozent der Bevölkerung), ist aber unvergleichlich heftiger. Auch „Selbstmord-Kopfschmerz” genannt, ist er der schlimmste bekannte Typ von Kopfschmerz.

Durchbruch in der Behandlung akuter Migräneattacken

Obwohl die Ursachen der Migräne nicht vollständig geklärt sind, bestätigt die Wissenschaft: Der Trigeminus, der 5. Hirnnerv, erweitert über Botenstoffe die Adern. Er ist somit an der Regulierung der Blutgefäße im Gehirn maßgeblich beteiligt. Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT) ist ein Botenstoff, dessen Anteile sich im Blutplasma während einer Migräneattacke ändern. Man versucht deshalb, mit anderen Substanzen eine ähnliche Wirkung zu erzielen wie Serotonin.

Triptane beispielsweise verengen die Gefäßwände und wirken entzündlichen Prozessen entgegen. Durch Triptane wurden die Behandlungsmöglichkeiten von Migräne in den letzen Jahren erheblich verbessert. Triptane wirken nicht nur gegen den Schmerz, sondern auch gegen die Begleiterscheinungen wie Übelkeit, Erbrechen und Licht- und Lärmempfindlichkeit. Doch bei Basillaris-Migräne oder bei komplizierten Formen (z. B. familiäre hemiplegische Migräne) sind Triptane kontraindiziert und können bei Betroffenen daher nicht zum Einsatz kommen.

Doch Forscher sind jetzt zwei größere Durchbrüche gegen akute Migräne-Attacken gelungen. Eine neue Klasse von Medikamenten, die antagonistisch auf den CGRP-Rezeptor (den Rezeptor für Peptide, die mit dem Kalzitonin-Gen zusammenhängen) wirkt und im Fachjargon “gepants” genannt wird, ist in der Lage, die Aktivität des trigeminovaskulären Systems, das als wesentlichster Innervationspfad des Gehirns für Migräne-Kopfschmerz verantwortlich ist, hinunterzumodulieren. „Diese Substanzen sind ähnlich wirksam wie Triptane, die auf einen Untertyp des Serotonin-Rezeptors wirken und gegenwärtig den wichtigsten Ansatz der Behandlung von Migräne und Cluster-Kopfschmerz darstellen, bewirken aber anders als diese keine Verengung der Blutgefäße im ganzen Körper und haben auch sonst praktisch keine Nebenwirkungen. Das macht sie auch für Migränepatienten mit Gefäßproblemen einsetzbar, für die Triptane nicht in Frage kommen”, so Prof. Schoenen.

Eine weitere neue Substanz, Lasmiditan, wirkt als Agonist auf einen Untertyp des Serotonin-Rezeptors (den 5-HT1F-Rezeptor), was die Ausschüttung von erregenden Neurotransmittern und CGRP im trigeminovaskulären System vermindert. Auch Lasmiditan verengt im Gegensatz zu Triptanen die Gefäße nicht. Wie bei den “gepants” seien daher bei ähnlicher Wirkung weniger Kontraindikationen zu beachten, und Lasmiditan werde auch besser vertragen als Triptane, so Prof. Schoenen.

„Bei beiden Substanzen werden derzeit noch mögliche unerwünschte Wirkungen geprüft. Wir glauben aber, dass sie in zwei bis drei Jahren erhältlich sein und neue Optionen für jene Patienten bringen werden, für die Triptane kontraindiziert sind, die diese nicht vertragen oder darauf nicht ansprechen”, betonte Prof. Schoenen.

Einigen Migräne-Patienten könnte Botox helfen

„Da in der Vorbeugung chronischer Migräne kaum eine der verfügbaren Therapien wirkt, sind neue Forschungsergebnisse erfreulich, die positive Effekte von Onabotulinumtoxin A (‘Botox’) als Injektion in die geeigneten Muskelpartien des Kopfes, des Gesichts und des Nackens belegen”, erläuterte Prof. Schoenen. „Es wirkt bei etwa 30 Prozent der Patienten mit chronischer Migräne, während der Effekt ähnlicher Placebo-Injektionen mit einer physiologischen Kochsalzlösung 12 Prozent beträgt. Der Netto-Effekt von Onabotulinumtoxin A ist also nicht überwältigend, aber wenn man die Spärlichkeit sonstiger Optionen und das praktisch völlige Fehlen von Nebenwirkungen mit einbezieht, könnte es für bestimmte Subgruppen von Patienten eine Hilfe darstellen. Auf welche Patienten dies zutrifft, muss in weiteren Studien untersucht werden, um den pharmako-ökonomischen Wert dieser Behandlungsoption zu erhöhen.”

Neuromodulation kann Migräne und Cluster-Kopfschmerz nebenwirkungsfrei dämpfen

Da alle Nervenaktivitäten, die zu Kopfschmerz führen, elektromagnetischer Natur sind, können geeignete elektrische oder elektromagnetische Impulse die schmerzerzeugenden oder -kontrollierenden Prozesse normalisieren (“modulieren”) – ein Effekt, der auf dem Europäischen Schmerz-Kongress in Hamburg intensiv diskutiert wurde. „Es sind mindestens vier Methoden in Entwicklung, die großes Potential zur Therapie von Migräne und Cluster-Kopfschmerz haben könnten”, erklärte Prof. Schoenen.

Zwei davon, die Okzipitalnerv-Stimulation (ONS) und die Stimulation des Nervus sphenopalatinus (Nervenstrukturen, die bei der Entstehung heftiger Kopfschmerzen eine wichtige Rolle spielen), arbeiten mit elektrischen Impulsen, die durch kleine, implantierte Stimulatoren ausgesandt werden. Zwei andere Methoden, die transkraniale Magnetstimulation (TMS) und die transkraniale Gleichstrom-Stimulation (tDCS) modulieren die Aktivität ihrer Zielregionen im Gehirn nicht-invasiv durch elektromagnetische Felder externer Geräte, die auf dem Kopf platziert werden.

„ONS hat bereits einige klinische Bedeutung gewonnen. Sie kann in 35 bis 40 Prozent der Fälle chronische Migräne-Attacken vorbeugen und wirkt bei mehr als 60 Prozent der Cluster-Kopfschmerz-Patienten. Alle anderen Methoden sollten als noch in Entwicklung betrachtet werden, wobei Studien noch im Gange oder gerade geplant sind. Allerdings könnte der Ansatz der nicht- oder minimal-invasiven Neuromodulation den künftigen Königsweg im Kampf gegen unterschiedliche Typen von Kopfschmerz darstellen – ein Weg ohne Belastungen und Nebenwirkungen”, so Prof. Schoenen. „In den nächsten Jahren erwarten wir hier bedeutende Durchbrüche.”

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Quellen:

– EFIC® – Europäische Dachverband nationaler Schmerzgesellschaften
– www.kopfschmerzforum.at – Komitee zur Unterstützung von Patienten mit Migräne

Fotohinweis: sofern nicht extra anders angegeben, Fotocredit by Fotolia.com (bzw. Adobe Stock)

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Linktipps

– Diagnose: chronische Migräne
– Wenn Kinder unter Migräne leiden
– Biofeedback Therapie
– Was ist chronische Migräne?
– Pharma-Wiki: Triptane

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