Chronische Polyarthritis: Rechtzeitige Früherkennung ist das Um und Auf
Schmerzen in den Finger- oder Zehengelenken, vorwiegend morgens und über mehrere Wochen anhaltend, können ein Hinweis auf eine chronische Polyarthritis sein. Je früher eine zuverlässige Diagnose erfolgt, desto besser sind die therapeutischen Möglichkeiten. Der Rheumatologe Peter Peichl im Interview über eine weit verbreitete rheumatische Erkrankung, von der vor allem Frauen betroffen sind.
Interview mit Dr. Peichl zum Thema Chronische Polyarthritis
gesund.co.at: Was versteht man unter dem Begriff „Chronische Polyarthritis“?
Peichl: Zunächst zum Begriff Arthritis: Es handelt sich hierbei um eine entzündliche Gelenkserkrankung, die folgende fünf Merkmale aufweist: Schwellung, Rötung, Überwärmung, Schmerz und eingeschränkte Funktion. Nur wenn an einem Gelenk all diese Parameter auftreten, dann sprechen wir von einer Arthritis. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der Arthrose um verschleißbedingte Erscheinungen, die sich meist nur durch Schmerz und eingeschränkte Funktion charakterisieren.
Bei der chronischen Polyarthritis handelt es sich nun um eine rheumatische Autoimmunerkrankung. Autoimmunerkrankung bedeutet: der Körper wird gegen sich selbst aggressiv. Er erkennt plötzlich eigene Strukturen wie die Gelenksinnenhaut oder Knorpel als fremd und antwortet mit Entzündungsreaktionen. „Rheuma“ wiederum kommt aus dem Griechischen und meint soviel wie „fließender Schmerz“.
gesund.co.at: Wie verläuft die unbehandelte chronische Polyarthritis?
Peichl: Die chronische Polyarthritis ist mit einer laufenden, langsamen Gelenkszerstörung verbunden. Durch die Zerstörung der Sehnen kommt es dabei nach und nach zu einer Beeinflussung der Gelenksfunktion. Das heißt, die Gelenke werden instabil und verformen sich. Letztlich mündet dies in eine komplette Deformierung der Sehnen und Gelenke. Auch Außenstehende können dies erkennen, etwa an deutlich nach außen verschobenen Handgelenken, deren Greiffunktion wesentlich eingeschränkt ist.
gesund.co.at: Wer ist betroffen?
Peichl: In der Regel tritt die chronische Polyarthritis im Alter von ca. 30 Jahren auf, es können aber auch alte Menschen oder Kinder, oft sogar im Alter von zwei oder drei Jahren, befallen werden. Fünf von sechs Betroffenen sind Frauen, ganz im Gegensatz zu anderen rheumatischen Erkrankungen wie dem Morbus Bechterew. In Österreich, wie auch weltweit, leiden 1 bis 2 % der Bevölkerung an chronischer Polyarthritis. Für Österreich bedeutet dies etwa 160.000 Betroffene.
Als nachgewiesene Risikofaktoren gelten unter anderem Übergewicht und Rauchen. Weiters wirken sich seelische Stresssituationen und depressive Zustände, bedingt etwa durch familiäre Verluste oder allgemeine Lebenskrisen, negativ auf das Immunsystem aus und sind wichtige Auslöser für das Auftreten und das Fortschreiten solcher Erkrankungen.
gesund.co.at: Was sind die Symptome der chronischen Polyarthritis?
Peichl: Das Leitsymptom sind Schmerzen und Entzündungen an den Gelenken, zumeist an den Hand- und Fingergelenken – und dies fast immer beidseitig. Sobald eine solche Entzündung länger als einen Monat lang besteht und mit einer Morgensteifigkeit einher geht, ist dringender Verdacht gegeben, dass es hier sich um ein beginnendes entzündlich-rheumatisches Geschehen im Sinne einer chronischen Polyarthritis handelt. Weitere Symptome, die natürlich sehr unspezifisch sind, sind Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Leistungsverlust.
Grundsätzlich kann bei der chronischen Polyarthritis jedes Gelenk, etwa auch das Kiefergelenk, von einer Entzündung betroffen sein. Zu über 90 % sind es allerdings die Handgelenke und die Fingergrundgelenke. Sobald es zu einer Manifestation einer Entzündung im Sinne der chronischen Polyarthritis kommt, geht ein Entzündungsprozess von der Gelenksinnenhaut aus und beginnt, das Gelenk zu zerstören, zunächst den Knorpel, dann die Sehnen.
gesund.co.at: Welche Möglichkeiten der eindeutigen Diagnose gibt es?
Peichl: Treten die klassischen Symptome auf, wird zunächst ein Blutbefund erstellt. Charakteristische Werte bei den Entzündungsparametern können erste Hinweise auf eine chronische Polyarthritis geben. Weiters wird das Blut auf spezielle Rheumafaktoren überprüft, über die man Defekte in der Proteindarstellung des Immunsystems nachweisen kann. Wird dann noch eine Gelenksentzündung an einem der sogenannten Indikatorgelenke festgestellt, kann zu fast 100 % davon ausgegangen werden, dass sich innerhalb der nächsten 6 Monate eine chronische Polyarthritis entwickelt.
Die Nachweisbarkeit der Blutwerte ist ohne großen Aufwand durch ein Labor herstellbar. Schwieriger ist schon der Nachweis der Gelenksentzündung selbst. Dies wird heute zumeist mittels Ultraschall erreicht, wobei mit dem Powerdoppler-Ultraschall, einer neuen Untersuchungsmethode, entzündliche Gewebe besonders effizient nachgewiesen werden können. Röntgenuntersuchungen sind in der ersten Phase unergiebig, da ja noch keine Gelenkszerstörungen sichtbar sind.
gesund.co.at: Wie wichtig ist rechtzeitige Früherkennung?
Peichl: In den ersten zwei Jahren der Erkrankung ereignen sich bereits 50 % der Gelenkszerstörung. Überdies kann die chronische Entzündung auch mit einer Zerstörung des Nierengewebes oder anderer Organsysteme, etwa des Gefäßsystems, einher gehen. Dennoch dauert es im Schnitt mehr als ein Jahr, bis ein Patient mit den Symptomen einer chronischen Polyarthritis eine adäquate Diagnose gestellt bekommt.
Wird die chronische Polyarthritis rechtzeitig erkannt, bedeutet dies, dass ein Patient im Alter von 25 bis 30 Jahren unter günstigen Bedingungen und bei vernünftiger Behandlung durchaus weitere 60 Jahre lang ein sorgenfreies Leben führen kann. Der Früherkennung kommt somit auch enorme volkswirtschaftliche Bedeutung zu. Nicht zuletzt deshalb werden bei entsprechenden Befundkonstellationen auch schon bei geringsten Beschwerden spezifische Medikamente von der Krankenkassa bewilligt.
gesund.co.at: Wäre es nicht logisch, ein 100 %-iges Screening der Bevölkerung im Alter von 25 Jahren anzustreben?
Peichl: Ein 100 %-Screening ist sicher nicht notwendig. Wesentlich wäre es hingegen, in der Bevölkerung, aber auch bei den Hausärzten, entsprechende Sensibilität zu schaffen. Diese müssten danach trachten, bei länger bestehenden diskreten Symptomen den Patienten zu einem Facharzt zu schicken oder eine entsprechende Blutabnahme zu veranlassen, um die fatalen Folgen, die mit dieser Erkrankung verbunden sind, zu vermeiden.
Leider lässt in Österreich auch die Versorgung mit Rheumatologen sehr zu wünschen übrig. Im Spitalsbereich sind zwar entsprechende rheumatologische Ambulanzen vorhanden, der Patient wartet jedoch teilweise 6 Monate lang auf einen Termin.
Im niedergelassenen Bereich ist es noch schlimmer, in Wien gibt es überhaupt nur zwei niedergelassene Rheumatologen mit einer Kassenordination. Hintergrund: die Krankenkassen honorieren den Zeitaufwand so gut wie gar nicht. Und bei einer fundierten rheumatologischen Diagnose steht das Sich-Zeit-Nehmen im Vordergrund.
gesund.co.at: Welche therapeutischen Möglichkeiten bestehen?
Peichl: Das Ziel der modernen Rheumatologie ist die faktische Heilung der Patienten und somit der Erhalt der Gelenksfunktion. Dabei bedient man sich einer Mehrsäulen-Therapie. Zunächst ist es ganz wichtig, dass die Patienten Physiotherapie und Ergotherapie zur Gelenkserhaltung bekommen.
In weiterer Folge benötigen sie Medikamente gegen die Entzündung und gegen den Schmerz, meist nichtsteroidale Antirheumatika wie Diclofenac, oder – wenn die Erkrankung eine hohe Aktivität hat – auch für einige Monate Cortison, die am stärksten entzündungshemmende Substanz.
Um nun den Erkrankungsverlauf zu verbessern und die Erkrankung stoppen zu können, wird eine sogenannte Basistherapie eingeleitet. Da gibt es zunächst klassische Antirheumatika wie Methotrexat, kurz MTX, eigentlich ein Krebsmedikament, das bei Rheuma in sehr geringen Dosen wirksam ist.
Die klassischen Basistherapeutika weisen allerdings zum Teil heftige Nebenwirkungen auf, sie beeinflussen den Magen-Darm-Trakt, können zu Allergien führen, Kopfschmerzen und allgemeine Symptome hervorrufen. Man setzt daher heute auf die neueste Generation von Medikamenten: die Biologika.
gesund.co.at: Was sind die Merkmale dieser Art von Antirheumatika?
Peichl: Biologika sind Eiweißkörper, die in der Lage sind, Entzündungsvorgänge im Körper zu unterbinden. Auf diesem Gebiet wurden bereits neun Substanzen entwickelt, die bei gutem Handling ganz spezifisch den Entzündungsprozess hemmen können. Häufig eingesetzt werden etwa die sogenannten TNF-alpha-Blocker, die die Patienten sich einmal in der Woche selbst unter die Haut spritzen. Die modernen Biologika besitzen den unschätzbaren Vorteil, dass sie zumeist kaum Nebenwirkungen aufweisen, allenfalls allergische Reaktionen hervorrufen.
Biologika sind aufgrund ihrer sehr aufwändigen Produktion teure Medikamente, ganz im Gegensatz zu den billig herzustellenden klassischen Rheumamedikamenten. Doch abgesehen vom Wohle des Patienten sticht auch hier das volkswirtschaftliche Argument: Wenn ich jemandem für ein, zwei Jahre ein teures Präparat geben muss und damit faktisch einen Stillstand dieser Erkrankung erreiche und der Patient danach wieder voll aktiv sein kann, ist die Investition wohl mehr als gerechtfertigt. Biologika-Therapien werden daher heute zumeist von den Krankenkassen genehmigt.
gesund.co.at: Welche physiotherapeutischen oder ergotherapeutischen Maßnahmen werden ergriffen?
Die Physiotherapie dient vor allem der Verbesserung der Muskelfunktion, weil es begleitend mit jeder Entzündung auch zu einer Mitbeeinflussung der Muskulatur kommt. Entzündete Muskulatur wird weniger benützt und verkürzt sich, dem kann Physiotherapie entgegensteuern, etwa durch Heilgymnastik, Massagen oder Strombehandlungen. Die Ergotherapie wiederum zielt auf die Erhaltung des Gelenks und seiner Funktion ab. Es werden die wesentlichen Greiffunktionen trainiert, um diese zu erhalten.
Peter Peichl, 51, ist Vorstand der internen Abteilungen und stellvertretender Ärztlicher Leiter des Evangelischen Krankenhauses in Wien.
Der international renommierte Internist und Rheumatologe ist mehrfacher Träger des Staatspreises für Rheumatologie.
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