Krankheiten erfinden: es soll Krankheiten geben, die gibt’s gar nicht
Manche Krankheiten sind nicht nur eingebildet, sondern sogar eingeredet. Nach Recherchen des Buchautors Jörg Blech verdienen Krankheitserfinder Geld an gesunden Menschen, denen sie einreden, sie wären krank.
Blechs Kritik richtet sich an Pharmaindustrie und Arzteverbände aller Fachgebiete: Studien seien nicht unabhängig, Krankheiten würden für Marketing-Zwecke übertrieben oder systematisch erfunden. Medienkampagnen machten auf Störungen aufmerksam, die “angeblich gravierend sind und viel zu selten behandelt werden”. Dazu zählt er etwa auch die Wechseljahre der Frau, Erregungsstörungen beim Mann oder das “Sissi-Syndrom”, das vor rund fünf Jahren als eine angeblich neue Form von Depression auftauchte.
Ein Leser schrieb an Blech: “Über Ihnen werden neben (sicher wenig) anerkennenden Rückmeldungen die Wogen wütender Lobbyisten aller Couleur zusammenschlagen.” Doch allzu viel Gegenwind hat Blech nach eigenen Angaben nicht bekommen. Auch wenn einige wütende Reaktionen unter den rund 350 Leserbriefen dabei gewesen seien, von Patienten oder Verbänden, sei die überwiegende Zahl der Zuschriften positiv gewesen.
“Die Pharmaindustrie braucht keine Krankheiten zu erfinden”
Gelassen ist denn auch die Reaktion des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) in Berlin: “Es gibt 30.000 Krankheiten, von denen bislang nur 10.000 angemessen behandelt werden können – da braucht man als Pharmaunternehmen wirklich keine Krankheiten zu erfinden”, sagt Verbandssprecher Rolf Hömke.
Der Autor lasse außerdem die Kerngebiete der Arzneimittelforschung außer Acht. Nach Hömkes Zahlen sind etwa folgende Mittel in der “Pipeline” der VFA- Unternehmen und haben Chancen, bis 2007 auf den Markt zu kommen: 1 Mittel gegen Erregungsstörungen, 4 zur Behandlung von Angststörungen, 37 für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und 12 für die Nervenkrankheit Parkinson.
Beispiel “Sissi-Syndrom”
Blech bleibt jedoch bei der These der Krankheitserfinder. Er wolle nicht das Pharma-Marketing “generell verdammen”. “Aber ich kritisiere, dass Befindlichkeitsstörungen aufgebauscht werden, damit sich mehr Leute angesprochen fühlen.” Als Beispiel einer erfundenen Krankheit nennt Blech das “Sissi-Syndrom”.
Der Begriff sei 1998 erstmals in einer ganzseitigen Werbeanzeige eines Pharmaunternehmens aufgetaucht. Die betroffenen Patienten seien depressiv und müssten gegebenenfalls mit Psychopharmaka behandelt werden. Sie überspielten aber ihre krankhafte Niedergeschlagenheit, wie es auch einst die österreichische Kaiserin getan habe.
Die Zahl der am “Sisi-Syndrom” erkrankten Deutschen wurde auf drei Millionen geschätzt, konkret wurde ein Medikament ins Spiel gebracht, Mediziner sprachen auf Symposien des Unternehmens. Eine Studie der Universität Münster (“Der Nervenarzt”, Bd. 74, S. 440) ergab dann: Im Widerspruch zum fehlenden wissenschaftlichen Beweis stehe die starke Präsenz des Syndroms in den Medien, welche gezielt durch eine PR-Agentur umgesetzt wurde.
Besonders in der Kritik: Psychiater
Blech greift auch die Psychiater an: “Die größte Fantasie beim Ersinnen neuer Krankheiten legen zweifellos Psychiater an den Tag.” Die Zahl der verschiedenen Diagnosen sei in den vergangenen 50 Jahren in die Höhe geschossen. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), Prof. Mathias Berger, zieht Bilanz: “Blechs Buch ist eine Mischung von berechtigter Kritik und überzogenen beziehungsweise nicht zutreffenden Vorwürfen.”
So seien etwa die nun genutzten rund 80 Hauptdiagnosen für psychische Erkrankungen eine wichtige Voraussetzung für eine gezielte Therapie und keineswegs überzogen. “Vor den 80er Jahren gab es keine wirklich verlässliche Diagnostik.
Die Diagnosen wurden eher subjektiv vom Arzt vergeben”, erklärt Berger und weist Blechs Kritik großenteils zurück. Die Kampagne für das “Sisi-Syndrom” hingegen werde auch von der DGPPN kritisiert. “Nachdem die Existenz einer solchen Erkrankung durch eine psychiatrisch-psychotherapeutische Universitätsklinik widerlegt wurde, ist das ‘Sisi-Syndrom’ auch schnell wieder von der Bildfläche verschwunden.”
Ein bisschen Einigkeit besteht doch
Mit der Forderung nach mehr unabhängigen Studien über Medikamente und Krankheiten hat Blech jedoch Bergers Nerv getroffen: “Wir stimmen mit Herrn Blech überein, dass universitäre Forschung unabhängiger von industrieller Finanzierung werden sollte.”
Der Mediziner nennt den Kern der Problematik: “Die klinische Medikamentenforschung war lange Zeit in Deutschland nur mit Hilfe der Pharmaindustrie möglich, weil die öffentliche Forschungsförderung kein oder kaum Geld dafür bereitgestellt hat.” Es sei nun die Politik gefordert, erste Schritte seien unternommen. Mit den vom Bundesforschungsministerium geförderten neuen Kompetenznetzen, etwa für Schizophrenie oder Depression, würden nun auch klinische Arzneimittelstudien finanziell unterstützt.
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Linktipps
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